Historie

Die Geschichte der Ravensberger Spinnerei

Im Jahre 1988 ist die Ravensberger Spinnerei nach einer über 130jährigen Geschichte in Konkurs gegangen. Sie war im 19. und 20. Jahrhundert eine der größten Flachsspinnereien Europas. Zuletzt war sie eine der beiden Spinnereien, die in der Bundesrepublik noch Flachs verarbeiteten und der letzte große Textilbetrieb in der ehemaligen Leinenstadt Bielefeld.

1854 gab es in Bielefeld viele arbeitssuchende Weber und Spinner und auch viele erfahrene Textilkaufleute mit entsprechender Kapitalkraft. Der erste erfolgreiche Schritt zur Gründung einer Textilfabrik ging jedoch von den Söhnen eines zugewanderten ungarischen Knechts aus. Die Brüder Carl und Theodor Bozi, die als Garnkaufleute im irischen Leinenzentrum Belfast die guten Absatzchancen der mechanisch hergestellten Garne erkannt hatten, gründeten im Jahr 1851 Bielefelds erste Spinnerei.

Der erfolgreiche Start dieses Betriebes einerseits, die Strukturkreise des Leinenhandels, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre durch eine akute Absatzkrise verschärfte andererseits, führte schließlich zu einer Initiative von Hermann Delius, einem Teilhaber der führenden Bielefelder Leinenhandlung von E.A. Delius & Söhne. Auf seine Anregung hin beschlossen im Jahr 1854 mehrere jüngere einheimische Leinenhändler die Gründung der Ravensberger Spinnerei.

Für den Aufbau und die technische Leitung der Ravensberger Spinnerei verpflichtete Delius einen der ersten Spinnereifachleute Preußens, Ferdinand Kaselowsky. Einen Bauplatz in der Senne, den er als Standort für die Spinnerei ausgewählt hatte, wurde von den Bozis aufgekauft. Sie fürchteten die neue Konkurrenz. Mit Blick auf die Lage zur Eisenbahn und die Möglichkeit zur Wassergewinnung wurde dann das Gelände im Bielfelder Osten ausgewählt. Die ersten Fabrikgebäude der Ravensberger Spinnerei entstanden unter Verwendung englischer Architekturvorbilder innerhalb eines Jahres.

Die Bedeutung der Spinnerei für die Stadt und Umgebung bestand darin, dass sie vielen arbeitslosen Webern, Spinnern und Heuerlingen Arbeit gab. Durchschnittlich wurden dort 1.500 Menschen beschäftigt. Die Spinnerei brachte in der Frühphase zehn Prozent der kommunalen Steuern auf. Diese wirtschaftliche Position hatte auch Einfluss auf die Entwicklung der städtischen Infrastruktur. Der Standort der Spinnerei wurde verkehrstechnisch gut mit der Innenstadt verbunden.

Die Textilindustrie war in der Frühphase der Industrialisierung für den hohen Anteil der Kinder- und Frauenarbeit, für lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne bekannt. Bei einer effektiven Arbeitszeit von 12 Stunden war der Arbeitsbeginn morgens um 5.30 Uhr und dauerte bis 19.00 Uhr. Fünf Minuten vor Arbeitsbeginn musste jeder an seinem Platz stehen, sonst erhielt er eine Strafe, die mindestens ein Viertel seines Arbeitsverdienstes ausmachte.

Produktionsprozess

Die Arbeit lässt sich am besten mit dem Ablauf des Produktionsprozesses beschrieben. Die langen Flachsfasern wurden ballenweise von der Spinnerei gekauft und zunächst „gehechelt“, das heißt durch eiserne Kämme gezogen. Die langen Flachsfasern wurden auf Anlegemaschinen gebracht und von dort aus zu einem endlosen Band geformt. Im anschließenden Strecken wurden die Faserbänder verdünnt. Die kurzen Flachsfasern, das sogenannte Werg, wurde zunächst sortiert und dann nach gleichbleibender Qualität gemischt. Zu diesem Zeck liefen die Fasern über „Karde“, eine Maschine mit Nadelwalzen, die sich gegeneinander drehten. In der Karderie war die Staubentwicklung noch größer als in der Hechelei. In dem 30 Meter langen Saal konnte man von einem Ende nicht zum anderen sehen...

Die entgültige Garnherstellung erfolgte im Nassspinnverfahren. Der Faden lief zur Reinigung durch heißes Wasser und wurde dann auf Spulen gedreht. Die Arbeiterinnen wurden ständig von abfliegenden Wassertropfen besprengt und arbeiteten deshalb ständig in nasser Kleidung. Die spezifischen Arbeitsbelastungen bestanden vor allem in dem hohen Lärmpegel der Maschinen, der Wärme, der Feuchtigkeit und der Staubentwicklung – deshalb zählte die Arbeit in der Spinnerei zu den gesundheitsschädlichsten Tätigkeiten in der industriellen Arbeitswelt. Diese schlechten Arbeitsbedingungen und umfassende spätfeudale Abhängigkeit der Arbeiter von ihrem Arbeitgeber trugen dazu bei, dass einheimische Arbeitskräfte die Spinnerei so weit wie möglich mieden.

Der erste Arbeitskampf fand 1890 statt. Er hatte neben der Senkung der Arbeitszeit und der Erhöhung der Löhne auch das Ziel der Abschaffung einiger menschenverachtender Regelungen: So sollten beispielsweise die sogenannten „Schandtafeln“, auf denen Verstöße gegen die Arbeitsordnung öffentlich notiert waren, beseitigt werden. Die Ravensberger Spinnerei wurde im Volksmund als „Zuchthaus“ bezeichnet.

Kriegs-Konjunktur

Der Sezessionskrieg in Nordamerika führte zu einer Verknappung der Baumwolle in Europa und zugleich zu einer steigenden Nachfrage nach Leinen und einer Blütezeit der Ravensberger Spinnerei. In dieser Zeit wurden zwei neue Bleichen gekauft und ein Zweigwerk in Wolfbüttel gegründet. Das Fabrikschloss der Spinnerei wurde mit einer Mauer umgeben.

Auch in der Zeit des ersten Weltkrieges war Baumwolle knapp und die Nachfrage nach Flachsgarn stieg wiederum an. Den Erzeugern wurden Abnahme und lohende Preise garantiert um den Nachschub an Rohstoff sicherzustellen.

In der Weimarer Republik kamen auch die Flachsspinner in eine große Krise. Die zunehmende Organisierung der Textilarbeiter in Gewerkschaften führte dazu, dass Arbeitszeiten und Löhne nicht mehr fest gesetzt werden konnten. Der Ausbau der Sozialpolitik führte zu steigenden Lohnnebenkosten und Steuerbelastungen. Ausschlaggebend waren jedoch drastische Schwankunden der Flachspreise, die überwiegend vom russischen Markt ausgingen. Von Dezember 1925 bis Juli 1926 wurde die Ravensberger Spinnerei stillgelegt. Als Grund gab die Fabrikleitung das Missverhältnis zwischen den Produktionskosten und den Garnpreisen an. Danach lief der Betrieb in eingeschränktem Maße wieder an. Die Schulden der Spinnerei wurden durch Aufnahme eines Kredites bei der Reichskreditgesellschaft abgedeckt.

Die nationalsozialistische Wirtschaft wurde vom Autarkriegedanken bestimmt. Die Ravensberger Spinnerei gründete deshalb in den 30er Jahren mit zwei weiteren Firmen eine Flachsröste. 95 Prozent des Flachses wurde zu dieser Zeit im Inland bezogen. Der Aufschwung dauerte nun wieder bis in den zweiten Weltkrieg hinein. Im Jahre 1941, dann in den Jahren 1943 bis 1945 wurde die Spinnerei bei Luftangriffen getroffen und musste die Produktion einstellen.

Vorrangiges Ziel der Nachkriegszeit war der Wiederaufbau des zerbombten Betriebes und die Erneuerung des Maschinenbestandes. Die Ravensberger Spinnerei investierte hier zwischen 1945 und 1959 sieben Millionen Mark. Trotz dieser Modernisierung stand die Ravensberger Spinnerei nach dem zweiten Weltkrieg vor den alten Problemen: Beschaffung der Rohstoffe und Arbeitskräftemangel. In den 70er Jahre gab es deshalb einen Gastarbeiteranteil von 60 Prozent. Durch die erschwerte Rohstoffbeschaffung stiegen die Produktionskosten. Die Preisdifferenz zwischen Leinen- Baumwoll- und Kunstfaserartikeln wurde immer größer. Leinenwaren entwickelten sich zu Luxusartikeln.

In der Wirtschaftskrise der Jahre 1966/67 machte die Spinnerei ein Defizit von fast 2 Millionen Mark – dies entsprach der Höhe des gesamten Aktienkapitals. Was blieb, war die vollständige Liquidation oder die vollständige Neuorientierung des Unternehmens auf die heutigen Marktverhältnisse. Im Zuge der Neustrukturierung wurde die Produktion verlagert. Das Gebäude und Geländer der Spinnerei mit 61.000 Quadratmetern wurde für rund 6 Millionen Mark an die Stadt Bielefeld verkauft. Auf dem Gelände der Bleicherei in Ummeln entstand ein moderner Neubau.

Straßenkreuzung oder Park?

Die Stadt plante mit dem erworbenen Areal einen Neubau des Arbeitsamtes und eine Tangentenstraße zur Innenstadt - genau über dem Standort der Spinnerei. Zusammen mit der Begradigung der Ausfallstraße hätte dies eine Vierteilung des Geländes bedeutet. Auf Betreiben einer kleinen Gruppe Bielefelder Bürger stellte der Landeskonservator von Westfalen Lippe das Fabrikschloss 1972 unter Denkmalschutz. Die Stadt beharrte jedoch lange auf ihren Plänen - das Straßenkreuz wurde lediglich neben das Hauptgebäude verschoben. Es bildete sich die Bürgerinitiative „pro grün“ und rief zu symbolischer Baumpflanzung und Aufräumarbeiten im Park. Die verschiedenen Initiativkreise bündelten ihre Bemühungen, um sich bei der Stadtplanung und Verwaltung besser Gehör zu verschaffen.
Schließlich wurden fünf neutrale Stadtplaner zu einer Anhörung gebeten, die übereinstimmend zu dem Ergebnis kamen, dass die Erhaltung des kostbaren Ensembles absolut Vorrang haben müsse. Die eigentlichen Stadtplaner bewerteten jedoch Proteste des Einzelhandels gegen die Vernachlässigung der Verkehrsbelange höher und hielten an ihren Plänen fest. Dagegen bildete sich der „Förderkreis Bürgerzentrum im Ravensberger Park“. Bürger verschiedener Berufsstände ließen auf ihre Kosten die bauliche Substanz prüfen und legten einen Leitplan in Form eines Faltblattes unter dem Titel „Die grüne Insel im Herzen Bielefelds – Bürgerzentrum Ravensberger Park für Bildung und Sport, für Freizeit und Erholung, für Einkehr und Begegnung“ vor. Da von Seiten der Stadt nichts Vergleichbares vorlag, wurde dieses Blatt als Vorlage für Rat und Verwaltung begrüßt. Die Ratsfraktionen wurden sich schnell einig, dass die VHS hier ihr neues Domizil finden und die Verkehrsberuhigung auf anderem Wege erreicht werden sollte.

Der Aus- und Umbau des Hauptgebäudes dauerte bis 1986. Dann konnte die Volkshochschule ihr neues Gebäude beziehen.

Das Hecheln

Der Flachs kam geröstet und geschwungen aus dem Bielefelder Umland, aber auch aus Belgien oder Russland.

Um die Flachsstempel vom letzten Pflanzenholz zu befreien, wurden sie „gehechelt“.

Die langen, qualitätsvollen Flachse wurden sortiert, von Hand angehechelt („gekämmt“) und dann den Hechelmaschinen zugeführt. Beim anschließenden „Handspitzen“ zog der Arbeiter die Flachbündel einige Male mit einer leichten Handdrehung durch die „Hechelei“ und erzielte damit die größtmögliche Feinheit der Fasern.

Diese Handarbeiten verrichteten ausschließlich Männer, sogenannte „Spitzer“ - sie verdienten den höchsten Akkordlohn in der Spinnerei. Ihre Tätigkeit zählte zu den qualifiziertesten, war jedoch äußerst anstrengend und gesundheitsschädlich. Stehend in gebückter Haltung, unter stetigem Einsatz von Muskelkraft, verbrachten die „Hechler“ ihren Arbeitstag in trockener Luft mit hoher Staubentwicklung.